Eine Studie von Mahne und Huxhold aus dem Jahr 2017 zeigt, dass sich im sozialen Wandel die Wohnentfernung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern immer mehr vergrößert hat. Besonders hochgebildete Eltern haben weiter entfernt wohnende Kinder. Die Vermutung liegt daher nahe, dass sich Kinder und Eltern auch emotional voneinander entfernen. Dies ist nicht der Fall: Kontakthäufigkeit und Beziehungsenge zwischen Eltern und ihren Kindern bleiben stabil hoch. Darüber hinaus beobachten Forghani und Neustaedter (2014) in ihrer Studie, dass Großeltern gerne kulturelles Wissen weitergeben wollen, gerade wenn die Enkel nicht mehr in ihrem Herkunftsland leben. Zudem wollen sie auch mehr über die Kultur der Enkelkinder erfahren. Andererseits fühlen sich Großeltern oft gehemmt oder unsicher, wenn sie über eine digitale Plattform mit ihren Kindern oder Enkelkindern kommunizieren. Sie wollen nicht zu viele Fragen stellen oder zu stark in deren Alltag eingreifen. Seitens der Eltern ist aber oft sogar erwünscht, dass Großeltern mehr in die Erziehung und Unterstützung der Enkelkinder integriert werden.
Zurück zur aktuellen Situation und dem Umgang mit Social Distancing: Wie können wir nun also Technologie nutzen, um Nähe trotz Distanz zu erleben? Wir haben derzeit kaum Produkte, die vergleichbares leisten. Doch es gibt zahlreiche wissenschaftliche Studien, die – wären sie in Produkte umgesetzt worden – uns jetzt und vielleicht sogar generell bei großen räumlichen Trennungen helfen würden. Ob sich vergleichbare Ansätze aus dem privaten familiären Bereich ebenso auf Arbeitskontexte übertragen lassen, muss sich noch zeigen.
Eindrücke miteinander teilen
Zahlreiche Konzepte beruhen darauf, Eindrücke und Inhalte über ein Medium mit dem Gegenüber zu teilen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Videokonferenztools oder Instant Messengern soll dabei ein stärkeres Verbundenheitsgefühl durch das direkte Sehen oder Erleben eines Familienmitgliedes erzeugt werden. Meist werden vertraute oder persönliche Ausschnitte des Alltags gezeigt. Außerdem soll das Gewahrsein des Gegenübers, die Kommunikation und das soziale Erlebnis über eine Distanz hinweg gefördert werden.
Die zwei Konzepte „The Family Window“ (Judge et al., 2010) und „Das Fenster” (Das Fenster, 2016, Schneider et al., 2015) geben die Möglichkeit, dass – wie bei einem echten Fenster – zwei Seiten zueinander blicken und sich gegenseitig beobachten können. Das Fenster wird in zwei Familienhaushalten aufgestellt und verbindet so diese beiden Orte miteinander. Sind beide Fenster „geöffnet“, so sieht man per Webcam und hört bei „Das Fenster“ auch per Ton, was auf der anderen Seite passiert. Ist nur ein Fenster offen, besteht die Möglichkeit abzuwarten bzw. am Fensterrahmen anzuklopfen, bis der andere Teil der Familie sein Fenster ebenfalls öffnet.
Ganz ähnlich funktioniert das „Bedtime Window“ (Kučera et al., 2019), mithilfe dessen Paare in Fernbeziehungen die Zu-Bett-Geh-Zeit miteinander erleben können. Beide Nutzer sehen zudem alle fünf Sekunden ein neues Bild ihres Gegenübers oder können sogar schon vorher eigenständig ein Bild aufnehmen und es versenden. Das Paar kann in Echtzeit miteinander interagieren und zeichnen. Nach einer bestimmten Zeit verschwindet das Gezeichnete wieder. Je nach Auswahl kann der Hintergrund der Anwendung an die eigenen Lichtverhältnisse oder die des Partners angepasst werden.
Das Konzept „FamilySong“ von Tibau et al. (2019) bindet ebenfalls das Teilen von Inhalten ein, wobei hier Musik eingesetzt wird, um Familienmitglieder aus mehreren Generationen zusammenzubringen. Bemalte Karten, sogenannte CardSongs, werden genutzt, um das Lied in beiden Haushalten synchron abzuspielen. Hier geht es vor allem um die Verbundenheit zwischen den zwei jüngeren Generationen mit der älteren Generation, die weit voneinander entfernt leben. Durch die Auswahl zwischen Hintergrund- und fokussiertem Musikhören fördert die App nicht nur Möglichkeiten, sich verbunden zu fühlen, sondern kann sich auch der aktuellen Alltagssituation anpassen. Das gemeinsame Erlebnis kann Grundlage für weitere Gespräche sein.
Autorin:
Amelie Bustorff, Hochschule der Medien
Quellen und weitere Links:
Das Fenster (2016). Nähe auf Distanz. https://naeheaufdistanz.com/portfolio/das-fenster/.
Forghani, A., & Neustaedter, C. (2014). The Social Challenges with Grandparent and Grandchild Communication Over Distance.
Judge, T. K., Neustaedter, C., & Kurtz, A. F. (2010). The family window: the design and evaluation of a domestic media space. In Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems (S. 2361-2370).
Kučera, J., Scott, J., Lindley, S., & Olivier, P. (2019). Bedtime window: a system enabling sharing of bedtime for long-distance couples. In Adjunct Proceedings of the 2019 ACM International Joint Conference on Pervasive and Ubiquitous Computing and Proceedings of the 2019 ACM International Symposium on Wearable Computers (S. 302-305).
Mahne, K., & Huxhold, O. (2017). Nähe auf Distanz: Bleiben die Beziehungen zwischen älteren Eltern und ihren erwachsenen Kindern trotz wachsender Wohnenfternungen gut?. In Altern im Wandel (S. 215-230). Springer VS, Wiesbaden.
Schneider, T., Hassenzahl, M., Lenz, E., Kohler, K., Adamow, W., & Beedgen, P. (2015). Nähe auf Distanz - sensible Gestaltung von Kommunikationstechnik. In Mensch und Computer 2015 - Proceedings.
Tibau, J., Stewart, M., Harrison, S., & Tatar, D. (2019). FamilySong: A Design for Managing Synchronous Intergenerational Remote Music Sharing. In Companion Publication of the 2019 on Designing Interactive Systems Conference 2019 Companion (S. 61-64).
29.06.20