Interviewpartner
Prof. Dr. Gottfried Zimmermann ist Professor für mobile Interaktion und Benutzerinteraktionan der Hochschule der Medien in Stuttgart. Seine Schwerpunkte sind Usability und Barrierefreiheit. Für seinen Post-Doc war er am Trace R&D Center, College of Engineering, University of Wisconsin-Madison, USA und war anschließend tätig als selbständiger Forscher und Berater für Barrierefreiheit und Usability. Er hatte eine Juniorprofessur für Medieninformatik an der Eberhard-Karls UniversitätTübingeninne, bevor er an die Hochschule der Medien wechselte. Dort gründete er das Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit, dessen Leiter er ist. Außerdem ist er stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter an der Hochschule. |
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Klaus Honold ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Er betreut dort verschiedene Projekte, unter anderem das studiengangübergreifende Angebot AT-Lab (Assistive Technologien), dessen Ziel es ist, Studierenden Rüstzeug in Form von Wissen und Kompetenzen auf dem Gebiet der digitalen Barrierefreiheit mitzugeben. Er gibt Workshops und hält Vorträge für externe Kunden. Darüber hinaus fungiert er aufgrund seiner Seheinschränkung in seinem Team als empirischer Testerund prüft Vergrößerungen, Kontraste etc. vor allem mit dem Screenreader. |
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ML: Seit wann gibt es das Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit?
GZ: Das Zentrum gibt es seit 2019. Wir haben es zusammen mit Prof. Dr. Bettina Schwarzer, der damaligen Prorektorin Digitalisierung gegründet. Zu Anfang wurden wir von der HdM unterstützt. Mittlerweile tragen wir uns komplett selbst durch Forschungsprojekte und kleinere Aufträge. Ich hatte eigentlich einen guten Kontakt zum MWK [Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg] und habe zusammen mit einem Kollegen vom Karlsruher Institut für Technologie vorgeschlagen, dass wir für alle Hochschulen im Land Baden-Württemberg Beratung und Dienstleistung anbieten könnten. Aber die Politik hat es bisher nichtgeschafft, diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen.
ML: Wie zufrieden seid Ihr mit der Aufmerksamkeit, die Euer Thema [digitale Barrierefreiheit] bekommt?
GZ: Also ich bin nicht zufrieden, weil das Thema eigentlich, wenn überhaupt, nur von rechtlicher Seite aus betrachtet wird. Gerade in größeren Unternehmen kümmern sich vor allem JuristInnen um das Thema. Ich hatte gerade eben heute Morgen einen Call mit ExpertInnen für Selbstbedienungsautomaten. Da haben die JuristInnen eine gesetzliche Lücke entdeckt, die es ihnen angeblich erlaubt, ein Bezahlsystem nur teilweise barrierefrei umzusetzen. Sie gestalten z. B. das Bezahlterminal barrierefrei, aber nicht den ganzen Checkoutprozess mit der Erfassung der Waren, weil das laut ihrem Verständnis nicht barrierefrei sein muss. Aber was bringt es einem, wenn man zahlen aber vorher nicht schauen kann, was man alles bestellt hat? Das Thema der Gleichstellung an Hochschulen bezieht sich rechtlich vor allem auf die Gleichstellung der Geschlechter. Aber bei der Barrierefreiheit reicht Awareness nicht aus, man braucht auch technisches KnowHow, um es umsetzen zu können.
KH: Ich kann mich Gottfried eigentlich voll umfänglich anschließen. Ich biete an der HdM ja das AT-Lab als freiwilliges Angebot an, das heißt ja, die Leute, die hierherkommen, interessieren sich und sind motiviert. Ich bekomme dann eigentlich jedes Semester das Feedback, dass es schade ist, dass das Thema in der allgemeinen Lehre wenig oder überhaupt nicht vertreten ist. Ich denke, es würde Sinn machen, es verpflichtend in der Lehre zu verankern,da die Umsetzung der Barrierefreiheit vom Gesetzgeber gefordert wird. Daneben habe ich einen zweiten Punkt: Ich beschäftige mich ehrenamtlich mit dem öffentlichen Personenverkehr, sprich Bahn und Bus. Da habe ich den Eindruck, dass das Thema beinahe gar nicht auf dem Schirm ist. Die Fahrkartenautomaten sind überhaupt nicht barrierefrei. Gerade für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen ist ein Touchscreen sehr unglücklich. Auch Anzeigen im öffentlichen Raum sind häufig völlig ungeschickt angebracht mit sehr kleinen Bildschirmen, die an die frühen 90er Jahre erinnern. Die Sondertasten im Bus, die man bedient, wenn man mit einem Kinderwagen oder Rollstuhl aussteigen möchte, sind zum Teil auf einer Höhe von 1,5 m angebracht, also überhaupt nicht auf der Höhe von Rollstuhlfahrenden. Bemühungensehe ich z. B. bei den Banken, die inzwischen akustische Alternativen anbieten, indem man an den Terminals einen Kopfhörer einstecken kann. Aber wenn man bedenkt, dass die Barrierefreiheit bei öffentlichen Stellen eigentlich schon gegeben sein müsste (siehe BITV 2.0) und in Teilen der Privatwirtschaft dann spätestens Ende Juni (siehe BFSG), dann finde ich die Bilanz schon sehr erschreckend.
ML: Was kein Muss ist, wird also wo möglich umgangen?
GZ: Unternehmen rechnen zum Teil damit, dass sich alles verzögern wird, weil es sicher Verspätungen in der Umsetzung der Marktüberwachung geben wird. Damit kalkulieren sie. Den großen Drang, jetzt etwas umzusetzen, sehe ich nur wenig.
ML: Um Unternehmen und Einrichtungen bei der Berücksichtigung digitaler Barrierefreiheit zu unterstützen bietet Ihr ja z. B. Checklisten an. Erlebt Ihr das als hilfreich?
GZ: Durch Checklisten können auch Missverständnisse entstehen, weil Entwicklerinnen und Entwickler sich diese an die Seite legen mit der Absicht, erst am Schluss alles zu checken. Aber dann ist es eigentlich schon zu spät. Außerdem wird dann mit einer Checkliste gern die Verantwortlichkeit für digitale Barrierefreiheit an eine Person abgeschoben. Aber Barrierefreiheit umfasst alle Rollen in der Projekt- oder Softwareentwicklung. Außerdem geben Checklisten den Eindruck, als müsste man einfach nur die Liste befolgen und wäre dann auf der sicheren Seite. Aber man braucht in vielem ein Verständnis dafür, warum das so ist und wie man die Forderungen in der Checkliste umsetzen kann. Und dafür braucht es technisches Hintergrundwissen. Barrierefreiheit ist viel komplexer als nur eine Checkliste durchzugehen.
ML: Wenn wir den menschzentrierten Gestaltungsprozess in den Blick nehmen, wo seht Ihr Herausforderungen oder auch Potenziale, gerade für kleine und mittlere Unternehmen (KMU)?
GZ: KMU haben häufig nicht die Manpower, um Nutzerinnen und Nutzereinzuladen. Außerdem ist die Rekrutierung schwierig, wenn man keine Beziehungen hat. Wenn wir von Menschen mit Behinderungen sprechen, reden wir von 15 % der Menschen. Doch auch diese Gruppe ist ja sehr heterogen. Es gibt einen großen Anteil, die keine digitale Barrierefreiheit benötigen, weil sie vielleicht gehbehindert sind. Es ist also schwierig, die „richtigen“ Leute zu finden und eine gute Mischung einzuladen.
KH: Es gibt ja auch nicht DIE Sehbehinderte, auch hier gibt es unterschiedliche Einschränkungen.
GZ: Es ist normalerweise nicht möglich, mit der Vielfalt von Benutzerinnen und Benutzern zu testen, die man berücksichtigen müsste bei der Barrierefreiheit. Deshalb sollte man Guidelines nutzen, selbstwenn auch die ihre Lücken haben.
ML: Also auch wenn wir uns „definierte“ Personengruppen näher anschauen, treffen wir auf eine hohe Diversität. Wie definiert Ihr denn Diversität und welche Facetten gehören dazu?
GZ: Ein Schwerpunkt der Diversitäts-Arbeit ist die Gleichstellung der Geschlechter und Geschlechteridentitäten, dazu gehört z. B. die Gendersprache. Ein anderer Bereich ist die Barrierefreiheit. Eigentlich gehört es zusammen, aber es gibt auch Konflikte. Wenn wir z. B. mit Sternchen in der Sprache arbeiten, liest es der Screenreader nicht mehr richtig vor. Im Prinzip ist es so, dass bei verschiedenen Dimensionen von Diversität oder Inklusion verschiedene Arten von Maßnahmen notwendig sind.
KH: Und ich glaube, dass es gerade KMU überfordern kann, dieser Heterogenität gerecht zu werden.
GZ: Auch die technischen Möglichkeiten sind komplex. Man sollte sich bei den technischen Umsetzungen auskennen und auch bei den assistiven Technologien, die von Menschen mit Behinderungen eingesetzt werden.
ML: Welche Erfahrungen habt Ihr denn bezüglich digitaler Barrierefreiheit mit KMU gemacht?
GZ: Große Unternehmen haben das Thema in jedem Fall mehr auf dem Schirm und bedienen es auch stärker. KMU mangelt es oft an einer Rechtsabteilung oder an der einer Compliance Abteilung, die auf das Thema aufmerksam macht.
ML: Wie könnte man KMU motivieren, dieses Thema stärker in den Fokus zu nehmen?
KH: Da denke ich an die Alterspyramide. Wir werden alle älter und damit alle auch mehr oder weniger behindert. Wir wollen die Produkte ja aber auch dann noch nutzen können. Unternehmen sollten also motiviert sein, ihre Produkte und Dienstleistungen entsprechend zu gestalten, so dass alle Konsumentinnen und Konsumenten angesprochen werden,um ihr Produkt weiterhin zu verkaufen.
GZ: Zu diesem Aspekt gehört auch das sogenannte Persona-Spektrum. Es gibt Menschen mit Einschränkungen, aber alle kommen mal in eine Situation, in der sie temporär oder situativ eingeschränkt sind. Letztendlich ist barrierefreies Design auch einfach gutes Design, weil es nachhaltiger ist im Sinne, dass man eine gute Lösung für alle schafft, die man nicht ständig nachbessern muss.
ML: Wie ist Euer Blick in die Zukunft?
GZ: Ich setze Hoffnung auf Künstliche Intelligenz, die wird in Zukunft einiges erleichtern. Vieles bei der digitalen Barrierefreiheit ist einfach lästig, weil es erstens Fachwissen erfordert und zweitens zum Teil eben auch großen Arbeitsaufwand bedeutet.
KH: Ich habe auch Hoffnung, dass es zukünftig gesellschaftlich relevanter wird, weil ich unsere Studierenden sehe, die interessiert und motiviert sind und das Thema hinaus in die Welt tragen. Letztendlich profitieren alle von Barrierefreiheit, z. B. am Bahnsteig: Da hilft sie nicht nur Rollstuhlfahrenden, sondern auch Menschen mit Kinderwägen, Fahrrädern oder Trolleys. Man sagt, für 10 % der Bevölkerung ist Barrierefreiheit zwingend, für 30 bis 40 % ist es eine wesentliche Erleichterung und für den Rest ist es schlichtweg einfach Komfort. Ja, wir profitieren alle davon.
Aktuelle Angebote und Materialien des Kompetenzzentrums für digitale Barrierefreiheit finden Sie auf der Webseite des Zentrums:
Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit an der Hochschule der Medien
Das Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheitan der Hochschule der Medien bietet qualitätsgesicherte Maßnahmen für staatliche Einrichtungen und andere Organisationen an, um diese bei der Umsetzung digitaler Barrierefreiheit in allen relevanten Bereichen zu unterstützen.
Website: barrierefreiheit.hdm-stuttgart.de
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Ansprechpartner
Christina Haspel
- Hochschule der Medien
- Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Usability
- Mittelstand-Digital Zentrum Fokus Mensch
- Nobelstraße 10
- 70569 Stuttgart
- +49 711 8923-3139
Dr. Magdalena Laib
- Hochschule der Medien
- Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Usability
- Mittelstand-Digital Zentrum Fokus Mensch
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