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Foto von Compare Fibre auf Unsplash.com
Im Rahmen des Mittelstand-Digitalzentrums Fokus Mensch beschäftigen wir uns damit, wie wir Diversität im menschzentrierten Gestaltungsprozess berücksichtigen und bedienen können. Hierzu haben wir Interviews mit verschiedenen ExpertInnen auf dem Gebiet der Diversität geführt. In diesem Beitrag teilenwir den zweiten Teil des Interviews mit Klaus Honold (KH) und Prof. Dr. Gottfried Zimmermann (GZ) vom Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit an der Hochschule der Medien, in dem wir darüber sprechen, welche konkreten Maßnahmenund Hilfsmittel es für kleine und mittlere Unternehmen gibt, diese Themen in ihre Unternehmen zu bringen. Das Interview führte Dr. Magdalena Laib (ML).
 

Interviewpartner

Prof. Dr. Gottfried Zimmermann ist Professor für mobile Interaktion und Benutzerinteraktionan der Hochschule der Medien in Stuttgart. Seine Schwerpunkte sind Usability und Barrierefreiheit. Für seinen Post-Doc war er am Trace R&D Center, College of Engineering, University of Wisconsin-Madison, USA und war anschließend tätig als selbständiger Forscher und Berater für Barrierefreiheit und Usability. Er hatte eine Juniorprofessur für Medieninformatik an der Eberhard-Karls UniversitätTübingeninne, bevor er an die Hochschule der Medien wechselte. Dort gründete er das Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit, dessen Leiter er ist. Außerdem ist er stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter an der Hochschule.

Klaus Honold ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Er betreut dort verschiedene Projekte, unter anderem das studiengangübergreifende Angebot AT-Lab (Assistive Technologien), dessen Ziel es ist, Studierenden Rüstzeug in Form von Wissen und Kompetenzen auf dem Gebiet der digitalen Barrierefreiheit mitzugeben. Er gibt Workshops und hält Vorträge für externe Kunden. Darüber hinaus fungiert er aufgrund seiner Seheinschränkung in seinem Team als empirischer Testerund prüft Vergrößerungen, Kontraste etc. vor allem mit dem Screenreader.

 
 

Interview: Teil 1

ML: Klaus, im ersten Teil des Interviews hast du Beispiele aus dem Alltag genannt, bei denen man merkt, dass die Barrierefreiheit bei der Gestaltung von Produkten nicht mitgedacht wurde. Wie könnte man das ändern? Wie kann man Eurer Erfahrung nach barrierefreiheitsrelevante Themen grundsätzlich in den menschzentrierten Gestaltungsprozess einbinden?

KH: Wichtig ist zum einen, dass man die entsprechenden Grundsätze oder technischen Anforderungen gleich von Anfang an mitberücksichtigt. Auch wenn wir uns im Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit vorwiegend in der digitalen Welt bewegen, vergleiche ich das immer mit konkreten Bauvorhaben. Es ist zum Beispiel immer schwieriger, eine Rampe oder einen Fahrstuhl nachträglich in einen Baubestand einzubauen, als wenn man dies von Anfang an mitberücksichtigt. Zudem ist es wichtig, dass man ganzheitlich denkt. Meist gibt es einzelne Baustellen, wo sich dann mit Barrierefreiheit beschäftigt wird und wo dann vielleicht auch mal was realisiert wird. Aber es wird halt dann nicht ganzheitlich gedacht und vieles verläuft dann vielleicht auch wieder im Sande.

ML: Was sind also die ersten Schritte, die man unternehmen kann, um Barrierefreiheit frühzeitig in die menschzentrierte Gestaltung einzubinden?

GZ: Wichtig ist, schon von vornherein die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen im Blick zu haben. Wir sagen ja eigentlich „Menschen mit Einschränkungen“, denn behindert ist man nicht, behindert wird man. Man kann also zum Beispiel Personas einbeziehen, die eine Einschränkung haben, oder natürlich noch besser Menschen, die eine Einschränkung haben. Und dann kann man auch schon zu einem frühen Zeitpunkt Reviews machen. Auch wenn ich zum Beispiel nur einen Wireframe habe, kann man eine heuristische Evaluation hinsichtlich der Benutzbarkeit für Menschen mit Einschränkungen durchführen, wenn man da von ein bisschen Ahnung hat. Der allererste Schritt ist es also, das eigene Personal auszubilden zum Thema Barrierefreiheit. Das geschieht noch vor Phase eins des Projekts.

ML: Und dafür sind zum Beispiel die Kurse, die ihr in eurem Zentrum anbietet, sinnvoll, oder?

GZ: Ja, genau.

ML: Gottfried, du hast Personas mit Einschränkungen angesprochen. Habt ihr solche schon beschrieben?

GZ: Wir haben zwei Sammlungen von Personas, eine aus einem früheren Erasmus plus Projekt, in welchem wir mit acht anderen Hochschulen in Baden-Württemberg zusammen gearbeitet haben. Seit neuestem haben wir jetzt eine richtig tolle Sache: Das nennt sich barrierefreies Blind Date. Es handelt sich um eine Plattform, auf der wir Studierende mit verschiedenen Einschränkungen dargestellt haben. Es sind Personas wie von Alan Cooper, die durch Benutzerforschung erstellt wurden. Wir haben sehr viele Interviews mit Studierenden mit Einschränkungen geführt; diese wurden dann kondensiert zu Personas. Da kommen auch Personas vor mit Einschränkungen, die wir typischerweise erst mal gar nicht betrachten würden, z. B. Depressionen oder chronischen Krankheiten. In der best3 Studie haben 16% der Studierenden in Deutschland angeben, eine Einschränkung bezüglich des Studiums zu haben, wovon zwei Drittel psychisch begründet sind.

ML: Nehmen wir an, ein Unternehmen ist motiviert, eine möglichst diverse Probandengruppe einzuladen, um sie unmittelbar in die Gestaltung ihrer Produkte oder Services einzubeziehen. Habt ihr Empfehlungen, wie man das angehen kann?

GZ: Es gibt z. B. Unternehmen, die das möglich machen. Es gibt jetzt ein Spin-off der Nikolauspflege, die NIKOWerk GmbH, die Leute mit Seheinschränkungen rekrutiert und vermittelt. Es gibt die „Pfennigparade“ in München, die Benutzertests durchführt, vor allem mit Menschen mit Einschränkungen. Es ist hilfreich, wenn man Kontakt zu einzelnen Personen mit beispielsweise einer Sehbehinderung hat. Das ist so eine klassische Weise, wie man die Softwareentwicklung im eigenen Unternehmen unterstützen kann. Viele Herausforderungen, die man selber als Entwickler oder Entwicklerin nicht auf dem Schirm hat, entstehen zum einen durch Sehbehinderungen, zum anderen aber auch durch kognitive Einschränkungen, was einem so auch nicht bewusst ist.

ML: Welche Alternativen gibt es, wenn ein Unternehmen die Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen berücksichtigen möchte, aber keine Betroffenen findet, um sie direkt in die Gestaltung einzubeziehen?

GZ: Das ist in unserem Bereich ein bisschen anders als in der generellen Usability-Gestaltung. Ich würde sagen, dass in der Barrierefreiheit Heuristiken eine größere Rolle spielen. Und mit Heuristik meine ich auch Standards. Die ganzen Guidelines, WCAG und auch EN 301 549 sind ja im Prinzip auch Heuristiken. Und diese Heuristiken sind sehr wichtig. Generell würde ich sagen, bevor man Benutzertests macht, sollte man sich zuerst an die Guidelines halten. Es bringt nichts, wenn man erst einmal etwas mit z. B. blinden Benutzerinnen und Benutzern ausprobiert, aber keine Ahnung hat, wie man etwas Screenreader-fähig macht. Man muss zuerst die Guidelines beachten, die Heuristiken, und dann kann mit Leuten mit Seheinschränkungen testen, um noch mehr rauszuholen. Die Anwendung der Guidelines ist der erste Schritt.

ML: Wenn man generelle Prinzipien aufstellen würde, wäre also ein Prinzip, sich mal mit dem Thema fachspezifisch auseinanderzusetzen, sich also wirklich Expertise anzueignen. Es reicht nicht, eine möglichst diverse Zielgruppe einzuladen, sondern man muss sich wirklich fachlich und technisch in die Themen einarbeiten?

GZ: Auf jeden Fall. Zum Einen muss man sich bewusst machen, was für Arten von Einschränkungen es gibt, und welche Hilfsmittel jeweils unterstützen können. Das machen wir auch in unseren Kursen. Dazu gehört es z. B. zu verstehen, wie ein Screenreader funktioniert. Daneben muss man wissen, wie man Barrierefreiheit für die eigene Plattform, die man entwickeln will, technisch umsetzt.

ML: Wenn ihr ein Unternehmen beratet, das auf euch zukommt und sagt: „Wir sind motiviert, wir kennen uns aber nicht aus.“ Was sind die ersten Schritte, die ihr mit den Unternehmen geht?

GZ: Erst einmal bilden wir sie aus, damit sie einen Blick dafür bekommen, was Barrierefreiheit eigentlich heißt und für wen das wichtig ist. Und dann fragen wir, in welchem Bereich sie es anwenden wollen. Dann schulen wir sie, bringen sie in die entsprechenden Netzwerke rein, die es gibt. Die findet man nicht mit Google, wir geben ihnen die richtigen Quellen und vernetzen sie. Es gibt zum Beispiel auch einen Berufsverband, inzwischen auch im deutschsprachigen Raum, für Expertinnen und Experten für Barrierefreiheit. Es gibt verschiedene Veranstaltungen über das Jahr hinweg, auch Konferenzen. Diese Vernetzung zu schaffen, ist glaube ich ganz wichtig. Das mache ich auch immer mit meinen Kursen. Am Schluss werfe ich noch mal so einen Blick drauf: Wie kann man sich vernetzen? Was man den Firmen auch an die Hand geben sollte, ist das Onboarding. Also wenn sie neue Mitarbeitende kriegen, dass auch diese ins Thema eingewiesen werden oder eine Schulung mitmachen.

ML: Gibt es weitere Unterstützungsmöglichkeiten für Unternehmen, die das Thema Barrierefreiheit anpacken wollen?

GZ: Man muss generell zwischen verschiedenartigen Hilfsmaßnahmen unterscheiden. Das ist zu meinen, dass man sie dabei unterstützt, wie sie Produkte und Dienstleistungen barrierefrei machen können. Das machen wir als Kompetenzzentrum. Die andere Art ist, dass man Unternehmen dabei unterstützt, Menschen mit Einschränkungen einzustellen. Das machen vor allem das Arbeitsamt und Inklusionsamt.

ML: Es gibt also die Möglichkeit, als Unternehmen auch finanziell zu Barrierefreiheit unterstützt zu werden?

KH: Wenn in Deutschland ein Arbeitgeber einen Menschen mit Einschränkung einstellt, dann gibt es Zuschüsse, die man bekommen kann. Also wenn ich jemanden einstelle, dann wird beispielsweise der Arbeitsplatz, also die Arbeitsplatzausstattung, die behindertenrelevant ist, übernommen.

ML: Spannend! Vielen Dank euch für das Interview und dass ihr euch die Zeit genommen habt. Ich habe ganz viel Neues gelernt.

 
 

Aktuelle Angebote und Materialien des Kompetenzzentrums für digitale Barrierefreiheit finden Sie auf der Webseite des Zentrums:

Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit an der Hochschule der Medien
Das Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheitan der Hochschule der Medien bietet qualitätsgesicherte Maßnahmen für staatliche Einrichtungen und andere Organisationen an, um diese bei der Umsetzung digitaler Barrierefreiheit in allen relevanten Bereichen zu unterstützen.
 
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Das Mittelstand-Digital Netzwerk bietet mit den Mittelstand-Digital Zentren und der Initiative IT-Sicherheit in der Wirtschaft umfassende Unterstützung bei der Digitalisierung. Kleine und mittlere Unternehmen profitieren von konkreten Praxisbeispielen und passgenauen, anbieterneutralen Angeboten zur Qualifikation und IT-Sicherheit. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ermöglicht die kostenfreie Nutzung der Angebote von Mittelstand-Digital. Weitere Informationen finden Sie unter www.mittelstand-digital.de.