Konsument:innen spielen eine entscheidende Rolle bei der Produktentwicklung. Besonders die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit (UUX) sowie ihre Erwartungen und Bedürfnisse sind von zentraler Bedeutung bei der Schaffung neuer und innovativer Produkte und Dienstleistungen. Doch was, wenn nicht nur der Durchschnitt, sondern auch jene außerhalb dieses Spektrums berücksichtigt werden: Die sogenannten Extreme Users?
Extreme User sind jene Konsument:innen, die am Rand eines Benutzerspektrums stehen. Im Produktgebrauch zeichnet sich diese Gruppe darin aus, weniger oder mehr als der Durchschnitt bei der jeweiligen Bedürfniserfüllung zu benötigen, wie Abb.1. verdeutlicht. Entweder findet ein Produkt keine Anwendung oder es wird sehr intensiv und häufig direkt nach der Produkteinführung genutzt. Letztere werden als Lead User bezeichnet.
Abbildung 1: Glockenkurve der Extreme User in Anlehnung an Basak & Roy [1]
Auf der linken Seite des Nutzungsspektrums sind die Personen, die ein Produkt überhaupt nicht nutzen. Ihr Desinteresse, Misstrauen oder die Unmöglichkeit der Benutzung, z. B. durch körperliche Beeinträchtigungen, kann auf Herausforderungen oder Schwächen im Design und damit der User Experience hinweisen. Mit der Behebung dieser Schwächen spricht das Produkt dann im besten Fall alle oder zumindest größere Personengruppen an [2].
Auf der anderen Seite des Nutzungsspektrums stehen die Lead User. Dies sind in der Regel Personen, welche Produkte oder Dienstleistungen sehr früh adaptieren. Sie werden häufig auch als Early Adopters bezeichnet undsind potentiellenn Markttrends voraus, weil sie das Produkt häufig kurz nach Markteinführung intensiv nutzen. Ihre Erfahrungen können zu Verbesserungen führen und damit als Grundlage für Produktupdates dienen. Aufgrund der intensiven Nutzung können die Erfahrungen der Lead User auch für die Gestaltung von Guidelines genutzt werden, da das Produkt dabei den intensivsten Anforderungen standhalten muss [3].
Oft finden die Ränder des Nutzungsspektrums jedoch keine Berücksichtigung bei der Produkt(weiter-)entwicklung, sondern häufig nur typische Nutzer:innen (Mainstream User). Meist ist eseinfacher, ein Produkt für Durchschnittskonsument:innen zu entwerfen, statt auf vielfältige Perspektiven einzugehen [4].
Die Idee des Einbezuges von extremen Nutzer:innen ist nicht neu, ihre Bedeutung wird jedoch oft übersehen. Werden die Bedürfnisse und Perspektiven dieser Randgruppen jedoch erkannt und mit denen des Durchschnitts ergänzt, kann dies zu konstruktiven Innovationen führen, wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen [5].
Lead User sind entscheidend für das Vorantreiben von Innovationen in vielen heute bekannten Sportarten. Vereinzelte, oftmals sehr junge Expert:innen probieren sich in der Ausübung verschiedener Sportarten, darunter Skateboarding, Snowboarding oder Windsurfing aus und entwickeln so Stück für Stück erste Protypen für eine bessere oder effizientere Art der Ausübung des Sports [6]. Die Anfänge des Kitesurfens gehen auf Surfer:innen zurück, die ihren Sport um ein externes Segel ergänzten. Der Wunsch der Lead User nach mehr Geschwindigkeit und höheren Sprüngen stellte den Nährboden für die neu geborene Trendsportart dar [7]. Auch viele der heute benötigten Equipments für Outdooraktivitäten können auf Lead User zurückgeführt werden [8].
Auch die Produktentwicklung von „Oxo Good Grips“ illustriert eindrucksvoll, wie das Verständnis der Bedürfnisse eines Extreme Users zu einem innovativen Produkt führen kann. Der Gründer Sam Farber entwickelte Küchenutensilien mit kleinen Modifikationen, nachdem seiner arthritischen Frau die Benutzung herkömmlicher Küchenutensilien Probleme bereitete. Die entstandenen Produkte waren nicht nur für Menschen mit Einschränkungen von Vorteil, sondern verbesserten die allgemeine Erfahrung aller [9].
Ein weiteres Beispiel ist die Weiterentwicklung des Ford Focus. Dabei haben sich Ingenieur:innen und Designer:innen mithilfe von Ganzkörperanzügen, welche die Sehfähigkeit und Bewegungsfreiheit älterer Menschen imitieren, in die Realität bestimmter Extreme User versetzt, um das Fahrzeug neu zu gestalten. Das resultierende Redesign des Autos erleichterte nicht nur die Nutzung für beeinträchtigte Verbraucher:innen, sondern verbesserte die Zugänglichkeit und Sichtbarkeit wichtiger Funktionen für alle [10].
Insgesamt zeigt die Integration von extremen Nutzer:innen in den Produktprozess, dass Innovationen nicht nur in der Mitte des Spektrums entstehen. Durch das Verständnis der Extremen können Produktentwickler:innen kreative Lösungen entdecken, die das Potenzial haben, die Art und Weise, wie wir Produkte nutzen, grundlegend zu verbessern.
Referenzen:
[1] Basak, A.; Roy, S. T. (2022): Visual Ergonomics for Colourblindness: Applying Universal Design Principles in Graphical User Interface to Provide Affordance to the Colourblind Users. In: Proceedings of the Design Society,2, S. 2055–2066. https://doi.org/10.1017/pds.2022.208
[2] Lid, Inger Marie (2014): Universal Design and disability: an interdisciplinary perspective. In: Disability and rehabilitation 36 (16), S. 1344–1349. https://doi.org/10.3109/09638288.2014.931472
[3] Clarke, A. J. (2017). Design anthropology: Object cultures in transition. Bloomsbury Academic.
[4] Moggride, B. (2017). Designing interactions. The MIT Press Series. The MIT Press. http://gbv.eblib.com/patron/FullRecord.aspx?p=3338581
[5] Basak, A; Roy, S. T. (2019): Universal Design Principles in Graphical User Interface: Understanding Visual Ergonomics for the Left-Handed Users in the Right-Handed World. In: Research into Design for a Connected World 135, S. 793–806. https://doi.org/10.1007/978-981-13-5977-4_67
[6] Shah, S. (2000). Sources and Patterns of Innovation in a Consumer Products Field: Innovations in Sporting Equipment. https://www.semanticscholar.org/paper/Sources-and-Patterns-of-Innovation-in-a-Consumer-in-Shah/c22bf088bf077aaee6183d033d2e199ef32fe50a
[7] Hippel, E. von. (2006). Democratizing Innovation. The MIT Press. https://library.oapen.org/bitstream/id/49e8a8b0-842a-4fde-ae7a-b65aab127960/1003993.pdf
[8] Lüthje, C. (2000). Kundenorientierung im Innovationsprozess: E. Untersuchung der Kunden-Hersteller-Interaktion in Konsumgütermärkten. Zugl.: München, Univ., Diss., 1999. DUV Wirtschaftswissenschaft: Bd. 33. Dt. Univ.-Verl. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83433-1
[9] Jpliester. (2021). OXO: Design-Ikonen des Haushalts. https://www.trendwelten.eu/trend/oxo-design-ikonen-des-haushalts/
[10] Blanding, M. (2014). Pay Attention To Your ‘Extreme Consumers’: Jill Avery and Michael Norton explain what marketers can learn from consumers whose preferences lie outside of the mainstream. https://hbswk.hbs.edu/item/pay-attention-to-your-extreme-consumers
12.02.24