Nicht nur technische Hilfsmittel können „Behinderung“ reduzieren, sondern auch Sprache. Die folgende Analyse von Websites zeigt, wie Unternehmen über Behinderung sprechen – und wie sich dies verändert hat.
„Was mich behindert, ist nicht die Tatsache, dass ich nicht gehen kann, sondern mich behindern Stufen, schmale Türen, Treppen und Menschen. Ja, vor allem Menschen.“ (Link 2016) Die Journalistin Christiane Link, die selbst eine Behinderung hat, fordert, Behinderung als gesellschaftliche Aufgabe zu verstehen, denn bereits Sprache macht einen Menschen behindert.
In der aktuellen Debatte um diversitätssensible Sprache stellt sich die Frage, wie Unternehmen kommunizieren, die sich seit Jahren mit Diversität befassen. Um dies zu ermitteln, wurde das Feld der deutschen Softwarebranche mit Hilfe eines Webcrawlers erfasst. Basierend auf dieser Datenbasis können im Folgenden unter Einhaltung der Anbieterneutralität des Mittelstand-Digital Zentrums Fokus Mensch beispielhaft Unternehmen vorgestellt werden.
Hersteller digitaler Assistenzsysteme etwa unterstützen Menschen mit Behinderung im Alltag – doch welche Begriffe verwenden sie auf ihren Websites? Die Wahl der Worte kann auf das Problembewusstsein hinweisen: Während die Formulierung „Mensch mit Behinderung“ den Fokus auf die Person legt, rückt bei „behinderter Mensch“ die Behinderung als Abweichung von der Norm in den Vordergrund.
Positives Beispiel: Selbstbestimmung
Was damit gemeint ist, zeigt der Screenshot aus dem Jahr 2023: Der Hersteller verspricht Selbststrändigkeit und Unabhängigkeit. Bezeichnungen für Menschen mit Behinderungen werden vermieden. Der Fokus liegt auf der Selbstbestimmung, einschließlich der Teilhabe am Berufsleben. Im Mittelpunkt der Darstellung steht der Mensch – nicht seine Behinderung. Das war nicht immer so.
Im Kontrast dazu die Website im Jahr 2001: In den Unternehmenszielen werden Menschen mit Behinderung nicht nur pathologisierend bezeichnet, sondern auch defizitär dargestellt, indem suggeriert wird, dass sie dauerhaft auf Unterstützung angewiesen seien. Die Behinderung und die damit verbundene körperliche Unvollständigkeit stehen im Mittelpunkt der Beschreibung.
Positives Beispiel: Teilhabe
Auch auf der Website von diesem Hersteller steht im Jahr 2001 stellenweise die Behinderung im Fokus. Dies zeigt sich an der Bezeichnung „nichtsprechende Menschen“. Dennoch wird bereits von der Förderung individueller Fähigkeiten gesprochen. Hier wird deutlich, dass erste Bestrebungen vorhanden sind, ein inklusiveres Bild von Behinderung zu zeichnen.
Etwa 20 Jahre später wird auf der Website ausschließlich von den individuellen Fähigkeiten und deren Förderung gesprochen. Formulierungen wie Erweiterung der Handlungsradien, zielen auf das Konzept Teilhabe ab. Statt von Menschen mit Behinderung und defizitärer Körperlichkeit als Zielgruppe wird von Menschen aller Altersgruppen gesprochen.
Neue Unternehmen in der Branche
Selbstbestimmung statt Abhängigkeit vom Umfeld. Teilhabe statt Defizitorientierung. „Mensch mit Behinderung“ statt „Schwertsbehinderter“. Die drei Beispiele zeigen, dass die Sprache diversitätssensibler geworden ist. Dadurch bauen die Hersteller bestehende Vorurteile gegenüber ihren Produkten ab und sprechen zugleich eine breitere Zielgruppe an. Denn die Stärkung von Teilhabe und Selbstbestimmung reduziert sich nicht auf den Ausgleich von vermeintlichen Defiziten.
Welche Sprachmuster nutzt die deutsche Softwareindustrie, wenn sie über Behinderung spricht?
Das Cluster der Hersteller digitaler Assistenzsysteme zeigt deutlich, dass Selbstbestimmung und Teilhabe zentrale Schlüsselkonzepte auf den Websites dieser Unternehmen sind. Doch auch Akteure im Zentrum des Netzwerks nutzen diese Begriffe – teils mit abweichenden Konnotationen oder geringerer Dichte. Die Begriffe Teilhabe oder Selbstbestimmung vermeiden nicht nur eine defizitäre Sprache, sondern stellen anschlussfähige Konzepte dar, durch die Hersteller ihre Reichweite erweitern können.
Der Sprachwandel selbst war das Ergebnis eines Lernprozesses: Während in den frühen 2000er Jahren die Behinderung im Fokus stand, rückt heute der Mensch in den Mittelpunkt. Eine Behinderung wird als Tatsache und nicht mehr als etwas Außergewöhnliches gesehen.
Dieses inklusive Verständnis und die entsprechende Sprache werden zunehmend von neuen Akteuren im Cluster der Hersteller aufgegriffen. Die Ergebnisse deuten auf einen Wissenswandel über Behinderung hin, der sich nicht nur im Cluster der Hersteller gefestigt hat, sondern sich auf die gesamte digitale Landschaft ausweitet. Alle Akteure tragen somit zu einer inklusiveren Gesellschaft bei.
Das Netzwerk zeigt, wie sich innovative Konzepte aus einem spezialisierten Bereich über die gesamte Digitalbranche hinweg verbreiten. Unternehmen profitieren von einem erweiterten Verständnis von Behinderung, indem sie Alltagsbarrieren abbauen, Inklusion fördern und die Nutzerfreundlichkeit ihrer Produkte verbessern. Zudem übernehmen sie soziale Verantwortung, indem sie die Selbstbestimmung und Teilhabe ihrer Mitarbeiter*innen und Kund*innen aktiv fördern. Denn die Konzepte rund um die Themen Selbstbestimmung und Teilhabe betreffen alle Menschen gleichermaßen. Eine inklusive Unternehmenskultur stärkt Innovation, erweitert Perspektiven auf Kund*innen und Produkte und bringt langfristige Vorteile mit sich.
Theoretischer Hintergrund und Methodik
Was ist ein organisationales Feld?
In der Organisationsforschung kam die Beobachtung auf, dass Organisationen mit der Zeit einander immer ähnlicher werden. Auf der Suche nach Erklärungen prägten DiMaggio & Powell (1983) das Konzept des organisationalen Feldes. Organisationen in einem solchen Feld bilden eine Gemeinschaft, interagieren öfter miteinander und teilen Normen, eine ähnliche Sprache sowie ein allgemeines Verständnis. Ein organisationales Feld bildet sich aus, wenn die Mitglieder zunehmend stärker miteinander interagieren oder sich gegenseitig wahrnehmen. Es gibt dominante Organisationen, die besonders gut vernetzt sind und mit anderen Organisationen bevorzugt zusammenarbeiten So bilden sich Koalitionen zwischen den Organisationen.
Dadurch kann man analysieren, welche Organisationen wichtig sind und die Entwicklung eines Feldes beeinflussen, undr welche Organisationen versuchen, bestehende im Feld etablierte Organisationen herauszufordern.
Wie kann man ein organisationales Feld rekonstruieren?
Eine Möglichkeit, ein organisationales Feld zu rekonstruieren, ist die Analyse von Websites der Organisationen, wie Powell & Oberg (2017) beschreiben. Auf Websites verlinken Organisationen andere Organisationen. Folgt man diesen Hyperlinks, dann ergibt sich ein Netzwerk von Organisationen. Nimmt man bei diesem Netzwerk nur die Organisationen und Links, die sich gegenseitig verlinken, ergibt dieses Netzwerk das organisationale Feld. Wird eine Organisation besonders oft verlinkt, dann kann diese Organisation sehr wichtig sein und eine hohe Reputation genießen. Verlinkt wiederum eine Organisation eine andere, dann kann sie dadurch zum Ausdruck bringen, ähnliche Ziele wie diese zu verfolgen. Verlinken sich zwei Organisationen gegenseitig, dann heißt es, dass sie sich gegenseitig wahrnehmen und sich als Akteure im Feld anerkennen. Sie verschaffen sich gegenseitig eine der wichtigsten Ressourcen, nämlich Aufmerksamkeit.
Was sagen Websites über eine Organisation aus?
Websites erfassen nicht nur, wer wen verlinkt. Sie zeigen die Themen an, die diskutiert werden. Welche Schlagwörter aktuell sind, um wahrgenommen zu werden. Oberg, Powell & Schöllhorn (2022) sprechen in diesem Zusammenhang von Selbstrepräsentationen der Organisationen. Selbstrepräsentation bedeutet, dass sich Organisationen bewusst im Vergleich zu anderen Organisationen auf ihren Websites positionieren. Sie beweisen damit, dass sie auf aktuelle Diskurse reagieren und diese in ihre Außendarstellung integrieren können. Das ist wichtig, um durch diese Anpassungsfähigkeit Legitimität im Feld zu erhalten. Etwa, um gegenüber Kunden wettbewerbsfähig zu wirken. Oder gegenüber Investoren als technologisch up-to-date zu erscheinen. Darüber hinaus geben sie für den Beobachter noch mehr preis. Ob ein Unternehmen oder eine Organisation überhaupt auf aktuelle Trends oder Themen reagiert, ist bereits spannend: Kann es nicht oder muss es nicht reagieren? Und wenn es ein Thema aufgreift, werden dann wichtige Konzepte verändert und uminterpretiert? Selbstrepräsentation wird dann eine Fähigkeit, die nicht alle Organisationen gleichermaßen teilen (müssen). Das ist vor allem in organisationalen Feldern wichtig, in denen neue Mitglieder hinzukommen, sich die Beziehungen und Verlinkungen zwischen den Organisationen verändern und durch die Konstellationen des Feldes immer wieder neue Themen auftauchen. Ob eine Organisation tatsächlich umsetzt, was sie verspricht, ist eine andere Frage. Das öffentliche Auseinandersetzen ist aber zumindest eine wichtige Vorstufe.
Woher stammen die Daten?
Die Daten stammen aus dem Web-Monitoring der deutschen Softwarebranche, das an der Universität Hamburg für das Mittelstand-Digital Zentrum Fokus Mensch durchgeführt wird. Die Universität Hamburg und das Mittelstand-Digital Zentrum Fokus Mensch aggieren dabei anbieterneutral.
Wie sind die Daten zu interpretieren?
Die Trefferanzahl bezieht sich auf die Anzahl von Dokumenten, in denen der Suchbegriff mindestens einmal erwähnt wird. Das Fehlen von Treffern kann technische Gründe haben. Etwa, weil die Website nicht vollständig erfasst wurde. Auch hängt von der konkreten Fragestellung ab, welche Organisationen relevant sind. Websites mit einer großen Trefferanzahl sind meist Foren oder Blogs, weil diese viele Unterseiten haben. Auf diesen liegt jedoch nicht automatisch der Fokus der Analyse. Das Hervorheben einer Organisationen begründet sich deshalb aus der Trefferanzahl und der spezifischen Fragestellung. Die Kreisgröße ist in der Darstellung log-Skaliert.
Literatur
DiMaggio, Paul J., und Walter W. Powell. 1983. „The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields“. American Sociological Review 48 (2): 147. https://doi.org/10.2307/2095101.
Kastl, Jörg Michael. 2017. Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04053-6
Oberg, Achim, Walter W. Powell, und Tino Schöllhorn. 2022. „Representations of Self in the Digital Public Sphere: The Field of Social Impact Analyzed Through Relational and Discursive Moves“. In Research in the Sociology of Organizations, herausgegeben von Thomas Gegenhuber, Danielle Logue, C.R. (Bob) Hinings, und Michael Barrett, 167–96. Emerald Publishing Limited. https://doi.org/10.1108/S0733-558X20220000083007.
Powell, Walter W., und Achim Oberg. 2017. „Networks and Institutions“. In The SAGE Handbook of Organizational Institutionalism, herausgegeben von Royston Greenwood, Renate E. Meyer, und Thomas B. Lawrence, 446–73. SAGE Publications Ltd. https://www.torrossa.com/en/resources/an/5018766.