Der vierstufige Ansatz der menschzentrierten Gestaltung, das Human-Centered Design (HCD) ist einer von verschiedenen Ansätzen, um Technologien und Produkte so zu entwickeln, dass sie den Ansprüchen, Fähigkeiten und Wünschen der Nutzenden entsprechen. Die Nutzer:innen stehen hierbei im Vordergrund. Produktkriterien wie Gebrauchstauglichkeit, Effizienz, Nachhaltigkeit und Barrierefreiheit sollen bei dem iterativen HCD-Prozess über eine aktive Einbindung der Nutzenden gewährleistet werden [1].
Dieser Ansatz bietet viele Vorteile, sollte aber sorgfältig durchgeführt werden, um Fehltritte (engl. "Pitfalls"), in der Entwicklung von Produkten oder Dienstleistungen zu vermeiden. In Bezug auf Diversität sind dies vor allem die Nichtberücksichtigung bestimmter Nutzer:innengruppen. In diesem Artikel werden konkrete Beispiele von Produkten oder Dienstleistungen vorgestellt, welche aufgrund der Vernachlässigung unterschiedlicher Diversitätsaspekte zu Pitfalls in der Produktentwicklung geführt haben.
Ein prominentes Beispiel für eine nicht repräsentative Auswahl von Nutzenden oder Probanden in Bezug auf das Geschlecht gibt es im Bereich der medizinischen Forschung [2]. Bei medizinischen Studien sind Frauen oftmals unterrepräsentiert, was zu ungenauen Ergebnissen führen kann [3]. Hauptsächlich an Männern getestete Medikamente, Therapien oder Behandlungsansätze können für Frauen eine andere Wirkung hervorrufen [4]. Trainingspläne oder Empfehlungen in Fitness- und Gesundheitsapps beispielsweise basieren vorwiegend auf Daten männlicher Studienteilnehmer [4]. Als ein weiteres Beispiel für das Nichtberücksichtigen des Geschlechts können VR-Brillen angeführt werden. Diese werden oft für die Maße von Männerköpfen und den Augenabstand von Männern konzipiert [5]. Für die Hälfte der potenziellen Nutzenden funktionieren die resultierenden Produkte folglich nicht optimal.
Durch die Nichtbeachtung des Alters kann die Nutzung eines Produkts oder einer Dienstleistung für Personen ebenfalls erschwert werden [6]. Fernbedienungen beispielsweise haben kleine, eng beieinanderliegende Tasten und weisen kaum oder schlecht gewählte Kontraste auf. Sie sind für ältere Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen oder motorischen Schwierigkeiten problematisch zu bedienen [6]. Mobile Anwendungen sind ebenfalls oft für jüngere Benutzer:innen optimiert. Die Oberflächen sind oft komplex und nicht auf altersbedingten Einschränkungen abgestimmt [7]. Die Bedürfnisse und Erfahrungen von Personen unterschiedlichen Alters variieren häufig und sollten bei der Entwicklung eines Produkts oder einer Dienstleistung von Design- und Entwicklungsteams bedacht werden.
Bei kommerziellen Gesichtserkennungssoftwares kam es zu signifikant unterschiedlich hohen Fehlerquoten für hellhäutige und dunkelhäutige Personen. Während die maximale Fehlerquote für hellhäutige, männlich gelesene Personen lediglich 0,8 % beträgt, beträgt sie bei dunkelhäutigen, weiblich gelesenen Personen 34,7% [8]. Dieses Beispiel zeigt sehr eindrücklich, dass Diversität, auch in Bezug auf den Phänotyp, während einer Produktentwicklung wichtig sein kann und dieser Aspekt mitgedacht werden sollte.
Auch das Einbeziehen von Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten erhöht die Diversität und verhindert den Ausschluss von potenziellen Nutzenden. Inklusion sollte ein zentraler Punkt bei der Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen sein [9]. Beispielsweise CAPTCHA, ein Tool, welches häufig im Onlinekontext für die Verifizierung Anwendung findet, schließt sehbehinderte häufig Menschen aus. Der Grund hierfür sind die hohen visuellen Herausforderungen des Tools, siehe Abbildung 1 [10]. Das Übersehen möglicher Barrieren für das eigene Produkt sollte unbedingt vermieden werden, um die Anwendung für möglichst viele Nutzende zu optimieren.
Abb. 1: CAPTCHA
Neben den beispielhaft genannten Diversitätsfaktoren, die die Gebrauchstauglichkeit und Effizienz von Produkten beeinträchtigen können, gibt es weitere Hürden, welche zu beachten sind. Unbewusste Vorannahmen von Designer- und Entwicklerinnen bezüglich der Zielgruppe können bereits während des Gestaltungsprozesses von Produkten oder Dienstleistungen bestimmte Nutzendengruppen ausschließen [11]. Die Missachtung oder Vernachlässigung des sozialen kulturellen Kontexts, in dem ein Produkt eingebunden werden soll, kann ebenfalls zu fehlgeleiteten oder ineffektiven Technologien führen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vielfalt der Nutzenden, die sozialen und kulturellen Kontexte, sowie langfristige Auswirkungen berücksichtigt werden müssen, ohne sich durch vermeintliche Vorannahmen beeinflussen zu lassen. Die menschzentrierte Gestaltung muss sorgfältig und umfassend angegangen werden, um sicherzustellen, dass Technologien wirklich für eine breite Vielfalt an Menschen nützlich und zugänglich sind und Pitfalls vermieden werden.
[1] DIN e.V. (2020). DIN EN ISO 9241-210:2020-03. In DIN e.V. (Hrsg.), Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 210: Menschzentrierte Gestaltung interaktiver Syteme (ISO 924-210:2019). Beuth-Verlag.
[2] Deutscher Ärzteverlag GmbH, Redaktion Deutsches Ärzteblatt. (2016). „In klinischen Studien sind Frauen oft unterrepräsentiert“. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/66613/Inklinischen-Studien-sind-Frauen-oft-unterrepraesentiert
[3] Steck, N., Lisa, M., Candinas, D., Beck Schimmer, B. & Gebhard, C. (2020). Gendermedizin: Patientinnen unterscheiden sich von Patienten. Schweizerische Ärztezeitung. Vorab-Onlinepublikation. https://doi.org/10.4414/saez.2020.18527
[4] Mahl, S. & Demiraslan, Y. (2024). Wie Frauen in Medizin und UI-Gestaltung besser einbezogen werden können. https://www.uid.com/insights/frauen-medizin-ui-gestaltung/
[5] Gendered Innovations | Stanford University. (2024, 2. September). https://genderedinnovations.stanford.edu/index.html
[6] Arthur D. Fisk, Sara J. Czaja, Wendy A. Rogers, Neil Charness & Joseph Sharit. (2009). Designing for older adults: Principles and creative human factors approaches (2. ed.). CRC Press.
[7] Hawthorn, D. (2000). Possible implications of aging for interface designers. Interacting with Computers, 12(5), 507–528. https://doi.org/10.1016/s0953-5438(99)00021-1
[8] Joy Buolamwini & Timnit Gebru (2018). Gender Shades: Intersectional Accuracy Disparities in Commercial Gender Classification. Conference on Fairness, Accountability and Transparency, 77–91. http://proceedings.mlr.press/v81/buolamwini18a.html?mod=article_inline&ref=akusion-ci-shi-dai-bizinesumedeia
[9] Inclusive Design Principles. (2024, 26. März). https://inclusivedesignprinciples.info
[10] Bigham, J. P., Cavender, A. C., Brudvik, J. T., Wobbrock, J. O. & Ladner, R. E. (2007). WebinSitu: A Comparative Analysis of Blind and Sighted Browsing Behavior. In Proceedings of the 9th international ACM SIGACCESS conference on Computers and accessibility. ACM.
[11] Friedman, B. & Nissenbaum, H. (1996). Bias in computer systems. ACM Transactions on Information Systems, 14(3), 330–347. https://doi.org/10.1145/230538.230561
12.09.24