In einem früheren Beitrag haben wir bereits erläutert, was das BFSG konkret beinhaltet, welche Chancen das Gesetz bietet und wie Sie es in Ihrem Unternehmen umsetzen können. Hier beleuchten wir, welches Verständnis von Behinderung im Gesetz verankert ist und warum die Umsetzung des BFSG weit über das bloße Beseitigen von Barrieren hinausgeht. Das gesellschaftliche Verständnis von Behinderung und dessen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung werden durch Modelle von Behinderung geprägt. Solche Modelle vereinfachen komplexe Sachverhalte und basieren auf bestimmten Erklärungsansätzen. Sie spiegeln gesellschaftliche Sichtweisen wider und beeinflussen maßgeblich, wie Behinderung verstanden und repräsentiert wird. Das vorherrschende Modell in einer Gesellschaft hat konkrete Auswirkungen auf Gesetze wie das BFSG und prägt dadurch die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Verständnis von Behinderung grundlegend gewandelt. Im Folgenden werden drei prägende Modelle vorgestellt.
Das individuelle Modell von Behinderung
Das individuelle Modell, manchmal auch medizinisches Modell genannt, versteht Behinderung als individuelle Abweichung von vermeintlich körperlichen, mentalen oder kognitiven Normen. Es basiert auf einer medizinischen Definition von Behinderung und einem biologischen Normalitätsbegriff. Ziel ist es, Behinderungen zu lindern oder zu heilen. Scheitert dieser Anspruch, finden sich Betroffene oft in einer von staatlicher oder privater Fürsorge abhängigen Rolle wieder. Häufig wurden sie in speziellen Einrichtungen untergebracht und von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Menschen mit einer positiven ärztlichen Prognose sollten hingegen durch Arbeitsmarktprogramme eingegliedert werden, indem sie sich so weit wie möglich an ihre Umwelt anpassten und innerhalb ihrer individuellen Möglichkeiten teilhatten. Dieses Modell dominierte das Verständnis von Behinderung bis in die 1970er Jahre.
Das soziale Modell
In den 1970er Jahren entwickelte sich als Kritik am individuellen Modell das soziale Modell von Behinderung. Es unterscheidet zwischen individuellen Beeinträchtigungen und gesellschaftlich bedingter Behinderung. Behinderung wird hier nicht als Leiden oder normative Abweichung verstanden, sondern als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse: Erst die Unterdrückung und Ausgrenzung durch die Gesellschaft verursachen Behinderung. Dieses Modell prägte die politische Behindertenbewegung und die Lebenspraxis der Betroffenen, die eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe forderten. In der Folge wurden Menschen mit Behinderung in Unternehmen integriert, nicht mehr durch bloße Anpassung, sondern durch den Einsatz von Hilfsmitteln und Unterstützungssystemen, die Behinderungen ausgleichen sollten. Dennoch blieb das Ideal der körperlichen Norm der Mehrheitsgesellschaft bestehen.
Das kulturelle Modell
In den 1990er Jahren entstand aus der Kritik am sozialen Modell wiederum das kulturelle Modell von Behinderung. Dieses verschiebt den Fokus der Analyse: Behinderung wird nicht mehr als Problem oder Abweichung verstanden, sondern als Ergebnis der gesellschaftlichen Problematisierung körperlicher Differenzen. Sie entsteht, wenn Menschen sich selbst oder von anderen als „behindert“ wahrgenommen werden. Solche Zuschreibungen prägen ihre Identität, ihr Selbstbild und den Umgang der Gesellschaft mit ihnen. Behinderung und Nichtbehinderung werden im Kontext der kulturellen Definition von Normalität und Abweichung betrachtet, die von der vorherrschenden Gesellschaft geformt werden. Der Fokus liegt somit nicht mehr auf Menschen mit Behinderungen, sondern auf gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen. Das Modell betont gleichberechtigte Rechte und die aktive Mitbestimmung, im Sinne des Mottos der Behindertenbewegung: „Nothing about us without us“. Im Jahr 2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Behindertenrechtskonvention, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt des Umgangs mit Behinderung stellt. Sie fordert nicht nur Teilhabe, sondern vor allem Selbstbestimmung. Damit wurde das kulturelle Modell in ein rechtliches Konstrukt überführt. Konkret bedeutet dies, dass beispielsweise Barrieren und Ungleichheiten in der Lohnarbeit beseitigt werden müssen, um Inklusion zu ermöglichen.
Teilhabe, Selbstbestimmung und das BFSG
Das kulturelle Modell von Behinderung zeigt, dass Behinderung durch gesellschaftliche Barrieren und Zuschreibungen entsteht. Das BFSG greift dieses Verständnis auf, indem es Barrieren abbaut und gleichen Zugang zu digitalen Produkten und Dienstleistungen ermöglicht. Für Unternehmen bietet ein erweitertes Verständnis von Behinderung die Möglichkeit, Alltagsbarrieren bewusst zu erkennen und abzubauen. Dies fördert nicht nur die Inklusion, sondern verbessert auch die Zugänglichkeit und Nutzerfreundlichkeit von Produkten und Dienstleistungen für alle. Zudem übernehmen Unternehmen soziale Verantwortung, indem sie aktiv zur Selbstbestimmung und Teilhabe ihrer Mitarbeiter*innen mit Behinderung beitragen. Eine solche Arbeitsumgebung stärkt eine inklusive Unternehmenskultur, fördert Innovation und ermöglicht es, von der Vielfalt der Perspektiven zu profitieren – ein Schritt, der langfristige Vorteile für das Unternehmen bringen kann. Das BFSG unterstützt diese Entwicklung entscheidend.
Literatur
Hirschberg, Marianne. 2022. „Modelle von Behinderung in den Disability Studies“. S. 93–108 in Handbuch Disability Studies, herausgegeben von A. Waldschmidt. Wiesbaden: Springer Fachmedien.